China in my hands
Von Shanghai nach Xining fliegen wir hinein ins Abenteuer. Gefolgt von Abertausenden erlebnishungriger Chinesen, die wie wir die Alte Seidenstraße wiederentdecken möchten. Im kargen Westen des Landes führt die Straße an Wüsten und bizarren Gebirgszügen entlang, hinein in eine vergessene Welt mit versteckten Naturwundern und sagenumwobenen Kulturstätten.
Ursprünglich begann die 6400 Kilometer lange Route in der alten Kaiserstadt Xi’an, berühmt für ihre massive Stadtmauer und Terrakottakrieger. Sie folgte dem Verlauf der Chinesischen Mauer in Richtung Nordwesten, überwand das Pamirgebirge und verlief über Afghanistan ins Morgenland. Von dort wurden die Handelsgüter dann über das Mittelmeer verschifft.
Der erste Teil unserer Strecke führt durch tibetanisches Autonomiegebiet, vorbei an gigantischen Salzseen ins Hochgebirge mit sattgrünen Almen, die von schwarzen Jacks beweidet werden. – Doch warum ist es eigentlich die Alte Seidenstraße, die Menschen jeglichen Alters in Strömen bereisen? Arbeitet die chinesische Regierung doch gerade mit Macht am Großprojekt einer Neuen Seidenstraße, die den Handel mit Europa wiederbeleben und ihn mit Nationen wie Russland, Indien, Indonesien oder dem afrikanischen Kontinent neu errichten soll.
Unser erster Halt lässt bereits ahnen, was es damit auf sich hat. Eine improvisierte Zeltstadt lädt Touristen ein, sich in traditionelle farbenprächtige Gewänder zu kleiden. Was für die von China vereinnahmten Volksstämme eine willkommene Einnahmequelle ist, kommt für die Reisenden einem wohligen Eintauchen in die exotische Fremde gleich – in sicherer Obhut der eigenen Landesgrenzen. Mit kindlicher Freude wird Model gestanden und fotografiert, wird das folkloristische Angebot nur allzu gern angenommen.
Immer wieder treffen wir auf unserer Reise auf dieses Muster: Die kulturellen Highlights werden flankiert von einer voll durchorganisierten Bespaßung mit Souvenirs und überbordenden Konsumofferten. Zu Corona-Zeiten war China von der Außenwelt abgeschlossen. Die Regierung nutzte wohl die Zeit, um sich verstärkt auf die eigenen geschichtlichen Wurzeln zu besinnen, Kulturdenkmäler für die landeseigene Bevölkerung zugänglich zu machen und herauszuputzen. Dieses „Nation Building“ hat das eine Ziel, den stürmischen Umbruch im Lande qua technologischen Fortschritt mit dem Traum von historischer Größe und alten Weltmachtansprüchen auszusöhnen.
Vielleicht an keinem Ort der Route wird das so offensichtlich wie in Dunhuang in der westchinesischen Provinz Gansu. Die Oasenstadt zwischen der Taklamakan-Wüste und der Wüste Gobi war einer der populärsten Rastorte auf der alten Route. Von hier aus soll sich der Buddhismus nach China ausgebreitet haben. Davon zeugen die Mogao-Grotten mit ihren vielen buddhistischen Tempeln, die über Jahrhunderte in die Felswand gehauen wurden.
Noch vor wenigen Jahren schlummerten die Grotten im Dornröschenschlaf. Heute drängen die Einheimischen unaufhörlich zur Kultstätte. Der Tourismus ist sagenhaft gut organisiert, mit einer Armada an Helferinnen und Helfern samt Reisebussen. Ohne Ausweis geht nichts, Tickets muss man Wochen und Monate vorher buchen. Von einem die Großebene einnehmenden Parkplatz bringen uns die Busse die letzten Kilometer ans Ziel. Der eigentlichen Besichtigung der Kunst ist eine große Show vorgeschaltet. Ein historischer Spielfilm entführt in die mittelalterliche Welt, wo Grotte um Grotte entsteht, und die Seidenstraße als Handelsroute auf ihren Höhepunkt zusteuert. Nach dem Blockbuster-reifen Säbelrasseln geht es direkt in die IMAX-Kuppel, wo die Kunstschätze einzelner Grotten auf Genauste gezeigt werden und in Begleitung einer sonoren Erklärstimme übermächtige 3D-Buddha-Figuren im Raum zu schweben beginnen. Die anstehende Führung durch die Kunsthöhlen geschieht auf bestem Englisch. Erstaunlich, weil unsere Führerin noch niemals das Land verlassen hat.
Eine Steigerung des touristischen Gigantismus scheint kaum mehr möglich. Doch es kommt noch besser, erstaunlicher, lustiger. Vor den Toren der Stadt erstreckt sich die Taklamakan-Wüste mit ihren hellbeigen Dünen. Aus dem Wüstenzugang wird eine Attraktion sondergleichen gemacht. Mit Bussen und Bimmelbahnen werden wir in die Nähe einer uralten Oase gekarrt. Die Chinesen nennen sie „Die erste Quelle unter dem Himmel“. Sie schmiegt sich sichelförmig an eine berghohe Düne, auch „Berg des singenden Sandes“ genannt. Wenn Sand die Dünen herunterrollt, soll ein Klingen und Brummen ertönen.
Wieder sind es sagenumwobene Geschichten und Naturphänomene, die wie ein Sog auf die chinesischen Touristen wirken. In kniehohen, leuchtorangenen Überschuhen watscheln wir mit ihnen im Gänsemarsch die Düne noch oben. Der heilige Sand soll auf diese Weise nicht beschädigt werden. Mein Eindruck: Die meisten Chinesen hier haben großen Respekt vor der Natur. Sie ist unberechenbar, kann menschfeindlich sein. Besonders spürt man das hier in der Wüste. Vor Sonnenstrahlen und Hitze versuchen sich die Menschen geradezu panisch mit Spezialkleidung und Sonnenschirmen zu schützen.
Währenddessen fliegen Helikopter und unbekannte Leichtflugobjekte über unseren Köpfen für den Blick auf das Spektakel von oben. Auf der einen Seite des Berges rasen Jeeps den Sand rauf und runter, auf der anderen bewegt sich eine Karawane mit hunderten berittenen Kamelen im Schneckentempo. Auf dem Dünenkamm posieren Mädchen und junge Frauen in traditionellen chinesischen Kostümen. Dies alles geschieht mit scheinbar größtem Selbstverständnis. Die Eindrücke, die auf uns einprasseln, sind so geballt und absurd, dass wir auf einmal laut auflachen müssen.
Plötzlich fegt eine Windböe über die Düne hinweg. Die heiligen Sandkörner schlagen uns ins Gesicht. Statt harmonischer Wüstenklänge sind die spitzen Schreie der Touristen zu hören. Ich fühle mich wie im Film und unwillkürlich an „Jurassic Park“ von Steven Spielberg erinnert, just in dem Schreckmoment, wo sich die Natur gegen den Menschen wendet, Bestien ausbrechen und ihm nach dem Leben trachten. - Die Wüste lebt! Und manchmal grummelt sie. In diesem Szenario bleibt sie berechenbar und verschont uns - Buddha sei Dank - von einer Katastrophe.
Heimatliebe Opphowa - Mäandern im Zuhause
Vor aller Zuschreibung, aller Huldigung, vor allen Aneignungsversuchen ist die Heimat eine bestimmte Form von ästhetischer Erfahrung, die sich wohl überall auf der Welt ähnlich zuträgt: Wenn ich nachhause komme, beginne ich zu vergleichen: Was ist gleichgeblieben und was hat sich verändert? Das Heimatgefühl ist an den subjektiven Vollzug des Abgleichens gebunden.
Vor aller Zuschreibung, aller Huldigung, vor allen Aneignungsversuchen ist die Heimat eine bestimmte Form von ästhetischer Erfahrung, die sich wohl überall auf der Welt ähnlich zuträgt: Wenn ich nachhause komme, beginne ich zu vergleichen: Was ist gleichgeblieben und was hat sich verändert? Das Heimatgefühl ist an den subjektiven Vollzug des Abgleichens gebunden. Damit einher gehen persönliche Gefühle: Freude, Belustigung, Glück, oder auch Unwohlsein und Traurigkeit.
Und je mehr sich verändert hat und je länger ich unterwegs war, oder je länger mir die Heimat vorenthalten wurde – so wie dem jüdischen Volk während der babylonischen Gefangenschaft – desto mehr wird die Heimat zum Sehnsuchtsort, zum Gedankenkonstrukt, speist sie sich aus den Erinnerungen, umwoben von Emotionen. Dinge, die bleiben, die sich kaum oder zumindest äußerlich betrachtet gar nicht verändert haben, so alltäglich sie auch sein mögen, geben uns Halt und Gewissheit über unsere Herkunft und damit von uns selbst.
Etwas, was sich nicht verändert hat, wie ein Geschäft im Einkaufszentrum, ist rar. Als Gradmesser für das Leben zu einer bestimmten Zeit schätzen wir es besonders. Mehr noch: Jemand, der den Zeiten trotzt, wie die „Reinigungskraft“ mit ihrem fast schon unverbesserlich antiquierten Laden, steht im Widerspruch zur rasanten gesellschaftlichen Entwicklung, die keinen Stein auf dem anderen lässt. Wir bestaunen diese kleine unverbrüchliche, gegen die Zukunft aufbegehrende Welt als unmöglich, weil sie der Zeit zu entkommen scheint, weil die Zeit in dieser Welt aufgehalten ist. Heimat ist Stillstand in der Zeit – für ungewisse Zeit. Beim nächsten Besuch ist der Mann von der Reinigung und mit ihm sein Laden verschwunden.
Heimat ist ursprünglich an den Ort gebunden. Vorschriftliche orale Kulturen besitzen diese starke Verbindung zu ihrem Herkunftsort. Aborigines sind mit ihrer Heimat, der australischen Wildnis, in der sie groß geworden sind, wo sie leben, geradezu verschmolzen. Sie kennen jeden Baum, jeden Stein, stehen mit ihnen im ständigen Dialog als individuellen, lebendigen Wesen. Müssen sie ihre Heimat verlassen, werden sie orts- und orientierungslos. Ihr Lebensanker ist gekappt: das Aufgehen in ihrer natürlichen Mitwelt verunmöglicht.
Vielleicht ist dieses Verwachsen-Sein mit unserem Ursprungsort in uns allen ganz tief verwurzelt. Vor diesem Hintergrund kann man die Schwere des Schicksals von den 110 Millionen Flüchtenden, die wir heute zählen, das Ausmaß von Heimatlosigkeit in unserer Welt, nur erahnen…
Oppau hat Geschichte. Der Ort wurde bereits im frühen Mittelalter 808 im Lorscher Codex anlässlich einer Schenkung an das Kloster Lorsch als „Oppowha“ erwähnt. Traurige Berühmtheit erlangte Oppau im 20. Jahrhundert: 1921 kam es zum „großen Knall“ als eine Explosion im Salpeterwerk der angrenzenden BASF das Dorf in Schutt und Asche legte. – Die Heimat als historischer Grund ist jedoch eher von Faszination als von tiefer Generationen-übergreifender Verwurzelung getragen.
Ludwigshafen ist eine junge Stadt, viele Häuser und Viertel sind erst in den letzten 70 Jahren entstanden. Die Namen der Orte sind von den Gegebenheiten hergenommen, verweisen auf das, was dort bislang war, wie „Pfingstweide“ oder „Froschlache“, Feuchtwiesen und Auen, die im Sog des Rheins Jahr für Jahr überflutet wurden und für die Landwirtschaft die längste Zeit nicht zugänglich waren. Meine Heimat steht in der Spannung zwischen Land und Stadt, zwischen ursprünglicher Natur und zivilisatorischer Umnutzung. Wo einst eine Weide war, auf die man zu Pfingsten Kühe und Schafe führte, stehen heute Hochhäuser und Bungalows, an denen Traktoren auf Äckern vorbeifahren.
Ich bin als Naturstädter großgeworden. Die Stadtnatur ist mein angestammtes Habitat. Vom Hochhaus sieht man die Berge der Hardt, die Weiher und Kiesgruben und unten vor der Haustür sind die Baggerseen zum Schwimmen da.
Der Heimatfilm zeigte die Heimat als Heimat der Berge, Almwiesen und Täler, als Idylle des dörflichen Lebens. Wie die romantisierende Darstellung der Natur und des ländlichen Raums Flucht und Gegenbild zum 2. Weltkrieg darstellten, liegt meine Heimat in der zeitlosen Abkehr von allem Historischen begründet. Die nachkriegsmoderne Architektur bringt starke Formen hervor, die ihre neue Bedeutungshoheit auch durch physische Größe unter Beweis stellen. Bauten aus Stahlbeton treten durch formale Schönheit hervor, werden wie die Hochhäuser der „Froschlache“ und die Wohntürme der Neckaruferbebauung Nord „NUB“ zu Leuchttürmen der Suche nach einer neuen sozialen Heimat.
Die Fotografie hat die Gabe, Objekte aus der Umgebung herauszuschälen und sichtbar zu machen. So wird das Haus an der Froschlache im Bild zum Modell. Die Qualitäten seiner starken Strukturen werden von der Patina des Alltags befreit und mit ihnen die Idee, die dahintersteht, die gesellschaftliche Utopie, nach der es gebaut wurde.
Heimat ist auch kitschig und komisch: ein Grasbüschel als Blumenstrauß, ein muskulöser im Studio trainierter Oberkörper als vermeintliches Resultat harter ländlicher Arbeit. Die Heranwachsenden in „Holzarbeit“, Grasstrauß“ und „Blütenzauber“ sind als Städter nur in die Landschaft hineingestellt. Sie konterkarieren klassische Rollen der alten Filme: die Magd, den Knecht, die Bürgerstochter.
Neben Menschen und Gebäuden zeigt die Ausstellung auch Heimatobjekte: Eine Straßenlaterne reckt ihren schlanken Hals aus dem frischen Blattwerk des Frühlings. Die kleine urbane Romantik ist bedeutungsschwanger mit „Laternenhain“ betitelt. Die „Laterne“ ruft heimelige Erinnerungen hervor, wie an alte Gaslampen in den Metropolen des Fin de Siècle oder den Nachwächter, der in den Straßen flaniert und die Lichter löscht. Der „Hain“ hüllt den profanen Hügel spielerisch in ein sakrales Licht. Das Göttliche ist hier aber weniger zu finden. Was einzig erleuchtet, ist die Straßenlaterne. Ihr Licht weist den Weg in die Heimat, ins Einkaufszentrum.
Die Heimat, könnte man sagen, ist das Vaterland, der Raum, sind die Orte, Architekturen und Objekte. Was aber wäre die Heimat ohne die Muttersprache, die sozialen Beziehungen, die Freundinnen und Freunde, die Familienbande, ohne das Fluidum der Kommunikation? Die Muttersprache ist der angestammte Dialekt, der wiederkehrende Dialog, sie ist aber auch die Heimat des Lichts, der Gerüche und Farben. Der türkisfarbene fransige Saum der Tischdecke auf der Terrasse, der silberne Motorroller vor dem Hochhaus im Sonnenlicht. Die Mutter mit ihren blonden Haaren, ihre elegante Erscheinung, für ewig festgehalten auf Zelluloid, zu dem einem Punkt in der Zeit, der nicht mehr ist. – „Muttersprache“ ist ein Arrangement der privaten Momente, Auslöser für Erinnerungen und Emotionen.
All das macht die Fotografie. Die Fotografie ist eine Heimatmaschine, die Einzigartiges, Unvergleichliches schafft. Sie produziert Bilder als Stütze für das Gedächtnis, eine Galerie der Momente, die in der Summe die nachgefühlte Heimat eines ganzen Lebens bilden. Sie konserviert Menschen und Orte, die sich, verglichen mit heute, verändert haben oder ganz verschwunden sind. Ein unschätzbarer Wert für das Subjekt, wenngleich stumm und festgefroren.
Lebendig wird es, wenn wir unsere Nächsten persönlich treffen, Menschen, die einen durchs Leben begleiten. Dann vergleichen wir wieder mit Freude. Was ist gleichgeblieben, was hat sich verändert: die Frisur, die Figur, der Witz, der Humor, die Attitüden? So wie wir uns austauschen, Verständnis teilen, schaffen wir eine zweite Heimat über die Dauer der Zeit, unabhängig von unserer Herkunft. Die zweite Heimat ist unsere Muttererde, sie erdet uns sozial. Sie ist existentiell.
Heimat ist ein Spiel mit der Zeit, ist Verlebendigung der Zeit, wenn ich Vergangenes ins Gegenwärtige bringe. Wir lesen die Zeichen der Zeit im Jetzt, leben den Moment und sind glücklich.
Die Libelle als gestrandetes Flugsubjekt
Es gibt nur sie allein, übergroß, leinwandfüllend. In Jonas Brinkers neuer Videoarbeit Echo Eclipse spielt eine Libelle die Hauptrolle. Sie begegnet uns gestrandet auf dem Boden der Zivilisation, gleichermaßen schutzlos und Ehrfurcht gebietend.
Echo Eclipse | Jonas Brinker
a new video loop depicting an insect entity lost in an Echo chamber of screen light reflections along with objects including minerals transmitting light information.
Ausstellungsbesprechung Echo Eclipse | Art Space Die Möglichkeit einer Insel
Es gibt nur sie allein, übergroß, leinwandfüllend. In Jonas Brinkers neuer Videoarbeit Echo Eclipse spielt eine Libelle die Hauptrolle. Sie begegnet uns gestrandet auf dem Boden der Zivilisation, gleichermaßen schutzlos und Ehrfurcht gebietend.
Brinker zeigt die Libelle, wie sie ist: die filigrane Struktur ihrer beiden Flügelpaare, ihre runden Facettenaugen und kräftigen Mandibeln. Die reine Konstruktion der Natur verfehlt ihre ästhetische Wirkung nicht, da das Umfeld für das gezeigte Objekt so ungewöhnlich wie essenziell für das Kunstwerk ist.
Statt auf einem Schilfhalm in der Sonne zu funkeln, hat es die Libelle des nachts auf glitzernden Asphalt verschlagen. Ihre vibrierenden Flügel reflektieren die Lichter der Stadt von Neonreklamen, digitalen Werbetafeln und Einsatzwagen in schillernden Farben. Dazu hört man das bassige Grummeln der Straße. Ab und an heult eine Sirene.
Hat die übermächtige Illumination dem Insekt die Orientierung genommen? – Darauf scheint der Titel Echo Eclipse jedenfalls hinzudeuten. – Oder steuerte die Libelle etwa „bewusst“ hierher, um der Magie des Lichts zu frönen? Wir wissen es nicht, können es uns aber frei hinzudenken. Die nächtliche Begegnung, dokumentiert mit der Videokamera, ist ergebnisoffen.
Jonas Brinker beschäftigt sich als Filmkünstler mit Tieren. Anders als es gewöhnliche Naturdokumentationen tun, verzichtet er in seinen Videos bewusst auf eine narrative Führung. Dient die Beobachtung im Tierfilm der Erklärung, verpackt als Geschichte vom Fressen, Jagen und Vermehren, beobachtet Brinker Tiere als Wesen, die mit uns sind und sich dort aufhalten, wohin sich Menschen ausbreiten.
So zeigen seine Videoarbeiten Stray (2020) und Intervall (2022) streunende Hunde vor unvollendeter Neubaukulisse an einer kargen Meeresküste. Nightfall (2022) folgt tanzenden Glühwürmchen im New Yorker Central Park. Und Echo Eclipse (2023) findet am Time Square eine erschöpfte Großlibelle.
Brinkers Konzentration auf das Tier in seinem Dasein sowie sein Einsatz modernster hochauflösender Kameratechnik legen den Vergleich zu einem ambitionierten Filmprojekt der Naturforschung nahe: Die Enzyclopaedia Cinematografica (EC | 1952-92) arbeitete mit Film als wissenschaftlichem Instrument. Ihre Idee war es, in kurzen Bewegungsstudien die Grundphänomene des Lebens zu konservieren, wie den Schritt des asiatischen Elefanten oder den Galopp eines Lamas. Dabei stand der Wirklichkeitsgehalt der Aufnahmen an erster Stelle: Narration war verboten. Gefilmt wurde in schwarz-weiß. Auf Ton wurde bewusst verzichtet.
Die auferlegte Reduktion der Aufnahmen zeigt sich entfernt verwandt mit Brinkers künstlerischem Setting. Hier wie dort erzeugt die Sichtbarmachung des Lebendigen als ästhetischen Überschuss eine Ehrfurcht vor dem Leben.
Für die EC wäre die Libelle ein optimales Studienobjekt gewesen. Sie hätte die Flugkünste des Insekts zum Besten gegeben, dokumentiert, wie die Libelle abrupt die Richtung wechselt, wie es ihr gelingt, in der Luft zu stehen oder sogar rückwärts zu fliegen. Die Faszination in Echo Eclipse läuft in eine andere Richtung. Die auf dem Boden kauernde, fast reglose Libelle ist eigentümlich präsent. Die Kamera ist frontal auf sie gerichtet. Im Gegenzug scheint auch die Libelle uns anzublicken.
Auf diese Weise wird die Libelle zum Subjekt der Begegnung. Das wilde Tier wird mir als Individuum bewusst, das ich zwar überdeutlich sehen kann, dessen Wesen mir aber nicht einsichtig wird. Auf die Offenheit dieser Begegnung scheint Brinker abzuzielen, nennt er das Tier doch nicht beim Namen. Die Libelle ist ein/e insect entity, mehr nicht. – Jonas Brinkers Videos agieren bewusst unwissend. Sie nehmen wahr, um zu erfahren, was ist, was sein könnte.
Der Künstler beobachtet die Tiere im urbanen Spannungsfeld, nicht in ihren angestammten Habitaten. Das verleiht seinem filmischen Gefüge eine romantische Note. In Zeiten, wo Natur- und Umweltthemen in der Kunst reüssieren, Kunstschaffende mit Forschenden hochkomplexe Projekte schmieden und Ateliers zu Laboren mutieren, wirkt Brinkers dokumentarisch-künstlerischer Ansatz seltsam aus der Zeit gefallen. Und doch behauptet sich seine verdichtete Beobachtungspoesie im Diskurs als eigenständige Stimme.
Das Beiwerk zum Video, eine Sammlung bunt erleuchteter Steine im Terrarium, stößt schließlich das Tor zur Naturgeschichte weit auf. Die minerals stammen aus einem Felsmassiv, aus dem auch der glitzernde Asphalt des Time Square gegossen wurde. Auf eben diesem prähistorischen Grund ruht die Libelle, als eine der am längsten existierenden Tiergruppen der Erde.
Bereits vor 320 Millionen Jahren durchflog sie die Sumpfwälder des Oberkarbon, um sich heute unvermittelt auf dem Time Square wiederzufinden. Ist die Libelle vom Aussterben bedroht oder wird sie den Menschen überleben? Unausweichlich gleichzeitig leben wir miteinander, nebeneinanderher. In dieser radikalen Spannung von Urgeschichte und anthropozentrischer Gegenwart scheint Echo Eclipse zu kulminieren.
Flächenbrand - Apulische Meditationen
Flächenbrand - Apulische Meditationen
Jul 16
Hoch über der weißen Stadt säumt auf einmal kohlschwarzes Gestrüpp die einsame Straße. Unverkennbar: hier muss ein verheerender Brand gewütet haben. Bizarre Astformationen zeugen von verzweifelten Löschversuchen.
Hoch über der weißen Stadt säumt auf einmal kohlschwarzes Gestrüpp die einsame Straße. Die Vegetation ist seltsam erstarrt, wie von einer bösen Fee schlagartig eingefroren. Bizarre Astformationen zeugen von einem verheerenden Brand und seinen verzweifelten Löschversuchen. In ihrem schwarzbraunen Trauerflor wirkt die archaische Landschaft noch wundersamer, als sie es von jeher war.
Ich bin unterwegs im Hinterland von Ostuni, vierhundert Meter über der Adria. Die Natur glüht orange in der aufgehenden Sonne. Ein erhabener Moment in zeitentrückter Atmosphäre. Ich komme mir vor wie ein wandelnder Mönch auf biblischen Pfaden: Ein abgebrannter Dornenbusch, weiß verkohltes Stroh, behutsame Schritte auf roter Erde. Ich verliere mich im Gekrakel der schwarzen Äste. Der verbrannte Weg führt durch uraltes, kraftstrotzendes Land. Die Ebene zwischen Berghang und Meer ist übersät mit Jahrhunderte alten Olivenbäumen. Noch einmal staunen über den grenzenlosen Blick auf das türkisblaue Meer. Dann führt ein schmaler, von Regenwasser durchpflügter Abstieg hinab in die Geschichte.
Am Rand einer Schlucht versteckt sich eine kleine Felsenkirche aus dem 12. Jh. Eine weiße Madonna im hellblauen Gewand wartet versteckt im Dunkel der feuchten Grotte. Draußen sind noch weitere Räume und ein Brunnen erkennbar, die in den Felsen gegraben wurden gleich einer heiligen Umfriedung. Die kleine Einsiedelei stammt aus dem zwölften Jahrhundert. Sie wurde von griechischen Eremiten bewohnt, wahrscheinlich Basilianern.
Die Kirche ist St. Blasius gewidmet, einem armenischen Bischof, Heiler und Arzt aus dem 3. Jh. Blasius von Sebaste starb als Märtyrer während der Christenverfolgungen im Römische Reich. Wahrscheinlich suchten auch die ihn verehrenden Mönche hier eine Zuflucht vor den herannahenden Osmanen. Entlang der Hügel von Ostuni sollen sie Blasius‘ Reliquien aufbewahrt haben.
Um Blasius und seine Wohltätigkeiten ranken sich viele Mythen. In der katholischen und orthodoxen Kirche wird er als Heiliger verehrt. Jedes Jahr an seinem Gedenktag, dem 3. Februar, pilgern Gläubige in die Brindisische Campagne zur unscheinbaren Wallfahrtskirche. In vielen Gemeinden wird dazu auch der Blasiussegen gespendet. San Biagio, wie ihn die Italiener nennen, zählt zu den vierzehn Nothelfern der katholischen Kirche. Jedenfalls hat das Feuer nicht bis hierher gefunden, denke ich, und gehe berührt zwischen versengten Mandel- und Johannisbrotbäumen zurück Richtung Straße.
Ostmoderner Humanismus
Ostmoderner Humanismus Die Architektur einer jeden Gesellschaft zeugt davon, wie sie das gemeinschaftliche Leben gestalten wollte. Auch wenn sie nur wenige Jahrzehnte alt sind, wirken manche Gebäude wie Chiffren, die erst noch entziffert werden müssen, um die Idee dahinter zu entdecken. nnt alles mit einer Idee.
Die Architektur einer jeden Gesellschaft zeugt davon, wie sie das gemeinschaftliche Leben gestalten wollte. Auch wenn sie nur wenige Jahrzehnte alt sind, wirken manche Gebäude wie Chiffren, die erst noch entziffert werden müssen, um die Idee dahinter zu entdecken.
Als ich 2002 in Berlin auf Wohnungssuche war, kam ich per Zufall in die Rathausstraße am Fernsehturm hinter dem Alexanderplatz zu einem gigantischen, lang gestreckten Apartmentblock. Bei der Wohnungsbesichtigung im 13. Stock fing mein Vormieter an zu prahlen:
„Die Rathausstraße, das war doch die wichtigste Straße in ganz Berlin, in der ganzen DDR überhaupt war das die Straße Nummer Eins!“ Da trafen zwei ganz verschiedene Menschen aufeinander, der eine aus dem Osten, der andere aus dem Westen. Beide waren wir fasziniert von diesem Ort: der treue Mieter wegen seiner schillernden Vergangenheit und ich wegen seiner Klarheit und Modernität. STRASSE NUMMER EINS - war ich tatsächlich an einen der repräsentativsten Orte der ehemaligen DDR gelangt?
Ich kontaktierte drei ehemalige Architekten und lud sie ein in meine frisch renovierte Plattenbauwohnung. Nach 35 Jahren zum ersten Mal wieder vor Ort, schwärmten sie von einer Zeit, als im historischen Berlin das moderne Stadtzentrum der DDR errichtet wurde. Der Höhepunkt, neben dem Fernsehturm mit seiner unverkennbaren Kuppel, war der neue Wohnkomplex in der Rathausstraße. Mit seiner kühnen Architektur, den öffentlichen Terrassen und Passagen, sollte das Gebäude ein kulturvolles Zusammenleben ermöglichen. Im Politjargon wurde die Bebauung bedeutungsschwanger als „Verkörperung des realen Humanismus“ gepriesen. Hier sollte die „sozialistische Menschengemeinschaft“ ihr neues Heim finden. Aus den Anekdoten der Architekten brach die Aufbruchsenergie von damals geballt hervor, so als ob das Haus gerade erst gestern fertig geworden wäre.
Deshalb steht das utopische Model der Rathausstraße bewusst am Anfang meines Films. Entgegen der Verurteilung, Ironisierung und Verharmlosung der DDR ging es mir darum, ihre Geschichte einmal anders zu erzählen, die DDR an dem höchsten Anspruch zu messen, den sie an sich selbst gestellt hat, gleicht die Rathausstraße doch dem Versuch der Erschaffung einer in sich perfekten Welt. Man muss dieses Ideal ausformulieren, um es zu verstehen und ohne es gleich zu werten. Ich wollte wissen, wie sich diese in Beton gegossene Utopie von einer glücklichen Gemeinschaft auf die Menschen im Haus ausgewirkt hat und ob sie heute noch fortwirkt. Die Architektur steht in meinem Film vor allem als Metapher für die gesellschaftlichen Ambitionen und Umstände. Das Schicksal der Bewohner wird am Haus und durch das Haus überhaupt erst deutlich. Die Verheißung von der „Verkörperung des realen Humanismus“ als Anspruch an die Architektur war abstrakt genug, um das interpretatorische Potentiale ihrer Bewohner herauszufordern. Sie waren es, die die Bauten buchstäblich mit Leben füllten.
Meine Protagonisten sind Menschen, deren Leben über Jahrzehnte aufs Engste mit der Rathausstrasse verknüpft ist, die das Hochhaus als ihre Heimat lieben, es verabscheuen, oder einfach nur froh sind, von dort weg zu sein. Ich treffe auf Menschen, deren Sehnsüchte und Wünsche entscheidend von dem Gemeinschafts- und Versorgungskonzept geprägt sind und für die die Schizophrenie zwischen Kameradschaft und Überwachung alltägliche Realität war. Die Mehrzahl der Bewohner hat diese „heile Welt der Diktatur“ durchlebt und daraus ganz unter-schiedliche Schlüsse gezogen. Am schwierigsten war es für mich, die Dialektik der Meinungen zur Geltung zu bringen, ohne eine Position vorschnell zu werten. Mit den Perspektiven aufs Haus in seinen Lichtstimmungen zu verschiedenen Jahreszeiten habe ich versucht, das unwirkliche Lebensgefühl in der Rathausstraße atmosphärisch spürbar zu machen.
Im Verlauf der Dreharbeiten hat sich gezeigt, dass die Frage nach der Gemeinschaft das geistige Band des Filmes bildet. Was kann ein Architekturmodell dazu beitragen und wo liegen seine Grenzen? Einerseits öffnet sich das Gebäude zur Straße, lädt die Passanten ein und schafft so Austausch und Öffentlichkeit. Andererseits wohnen dort die Privilegierten in ihren einheitlichen Parzellen, erhaben, wie auf einer Burg. Ohne Beziehungen und gesellschaftliche Konformität war es kaum möglich, in der Rathausstraße eine Wohnung zu bekommen. Diese Tendenz zur Wohnelite lag nicht an der Architektur selbst, sondern an der damaligen Besetzungspolitik.
Doch schafft das Ideal von Gleichheit, auf das die streng modulare Plattenbauweise abzielt, mit den immer gleichen Wohnungsgrößen und -aufteilungen nicht eine Gerechtigkeit, die gerade einschränkt? Das verordnete Modell normiert die Gemeinschaft. Das Scheitern der modularen Plattenbauweise und mit ihr der Modernen Architektur liegt darin, ein überzeitliches Patentrezept für die Einlösung gesellschaftlicher Ansprüche zu behaupten, ohne die Freiheit des Einzelnen genügend zu berücksichtigen. Im vorgefertigten Paradies scheint kein Platz zu sein für die eigenen Wünsche. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat in einer Diskussion zum Thema Architektur und Gesellschaft einmal gesagt: „Man muss Gemeinschaftsentwürfe immer wieder von ihren selbst geschaffenen Totalitätsvorstellungen entrümpeln“. - Das ist die Kehrseite der Medaille, die der Film vor Augen führt.
Ich glaube, man kann die DDR gut von ihrer Architektur, von ihren Orten her dechiffrieren. Ein System, das nach dem Krieg mit der Tradition abschließen wollte und dadurch ortlos geworden, also von Anbeginn utopisch gewesen ist. Wie wollte der neue Staat die Gesellschaft wieder aufbauen? In den 60er Jahren entstand das Gebäude in einer einmaligen historischen Situation. Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik glaubte die DDR, die gesellschaftliche Entwicklung steuern zu können. Für jede logistische Herausforderung suchte man das passende System. Die Rathausstraße ist ein idealtypisches Beispiel für dieses Denken.
Doch der Selbstwiderspruch des utopischen Auftrags war von Anfang an programmiert. Kann man überhaupt „real humanistisch“ bauen in einem Land, das seine Grenzen schließt? Wie soll man unter diesen Umständen gemeinschaftlich zusammenleben? Es ist dieses große Misstrauen gegenüber dem „Ort“, der Tradition, der Geschichte, dem Privaten, welches das Wesen der DDR bestimmt hat. Das Misstrauen gegenüber den gesellschaftlichen Freiräumen, die sie selber geschaffen hat, um sich in der Welt neu zu erfinden. Der Stasiapparat ist kein separat zu betrachtendes Unheil, er ist vor allem auch ein Effekt uneinlösbarer, idealisierter Zielvorstellungen.
Trotz Mauer und Stacheldraht wurde damals aber etwas in der Rathausstraße geschaffen, was die Menschen heute, nach dem Umbau, vermissen. Der öffentliche Raum ging durch die Umgestaltung der Passagen zum Center verloren und steht damit auch symbolisch ein für die Wendeschicksale im Film. Ich glaube, dass dieses Verschwinden von Öffentlichkeit für viele Menschen in unserer Gesellschaft heute problematisch geworden ist. Der Wunsch nach einem konkreten Austausch wird größer, nach einer sichtbaren Sphäre, entgegen einer Kommunikation, die sich im virtuellen Raum des Internets verflüchtigt.
Das ursprüngliche Raumkonzept der Rathausstraße fasziniert mich immer noch, weil hier Öffentlichkeit einmal erfahrbar und begehbar und damit Straße zum Erlebnis geworden ist. Dahinter steht ein städtebauliches Ideal von Transparenz, Offenheit und Freizügigkeit, das auch nicht einfach wegzudenken ist. Ich kann diese Vorzüge hier im Haus, wenn ich will, erleben:
„In dem, was hier geschieht, liegt die Größe, nicht mehr in der Rhetorik der Steine. Aber vielleicht muss man selbst wirklich frei sein von Repräsentations- und Statusbedürfnissen, von dem zwanghaften Bemühen um die Herstellung eines Nimbus von Persönlichkeit, um diese unbestimmten, ungerichteten und eigenschaftslosen Räume ertragen zu können... Die gelebte Platte bedeutet verinnerlichte Einsicht in die Notwendigkeit universellen Teilens und Schonens.“
Besser als Simone Hain, die Expertin für ostmoderne Architektur, kann man es für mich nicht auf den Punkt bringen. Der industrielle Wohnungsbau hat einen ethischen Anspruch, den man sich bei all seiner Ablehnung immer wieder vor Augen halten muss.
Könnten wir ohne diese Versuche leben, für die Gemeinschaft Konzepte zu entwickeln? Auch wenn es immer schwieriger wird, in der sich rasant diversifizierenden Gesellschaft gemeinsame Perspektiven zu finden, - wir können es nicht. Wir sollten Modelle entwickeln, an denen wir scheitern dürfen, gleich wie gut sie gemeint sind. Aber wir sollten niemals den Anspruch auf eine funktionierende Gemeinschaft aufgeben. - Dem Umbau und der Entfremdung zum Trotz, die Rathausstraße lebt immer noch.