China in my hands
Von Shanghai nach Xining fliegen wir hinein ins Abenteuer. Gefolgt von Abertausenden erlebnishungriger Chinesen, die wie wir die Alte Seidenstraße wiederentdecken möchten. Im kargen Westen des Landes führt die Straße an Wüsten und bizarren Gebirgszügen entlang, hinein in eine vergessene Welt mit versteckten Naturwundern und sagenumwobenen Kulturstätten.
Ursprünglich begann die 6400 Kilometer lange Route in der alten Kaiserstadt Xi’an, berühmt für ihre massive Stadtmauer und Terrakottakrieger. Sie folgte dem Verlauf der Chinesischen Mauer in Richtung Nordwesten, überwand das Pamirgebirge und verlief über Afghanistan ins Morgenland. Von dort wurden die Handelsgüter dann über das Mittelmeer verschifft.
Der erste Teil unserer Strecke führt durch tibetanisches Autonomiegebiet, vorbei an gigantischen Salzseen ins Hochgebirge mit sattgrünen Almen, die von schwarzen Jacks beweidet werden. – Doch warum ist es eigentlich die Alte Seidenstraße, die Menschen jeglichen Alters in Strömen bereisen? Arbeitet die chinesische Regierung doch gerade mit Macht am Großprojekt einer Neuen Seidenstraße, die den Handel mit Europa wiederbeleben und ihn mit Nationen wie Russland, Indien, Indonesien oder dem afrikanischen Kontinent neu errichten soll.
Unser erster Halt lässt bereits ahnen, was es damit auf sich hat. Eine improvisierte Zeltstadt lädt Touristen ein, sich in traditionelle farbenprächtige Gewänder zu kleiden. Was für die von China vereinnahmten Volksstämme eine willkommene Einnahmequelle ist, kommt für die Reisenden einem wohligen Eintauchen in die exotische Fremde gleich – in sicherer Obhut der eigenen Landesgrenzen. Mit kindlicher Freude wird Model gestanden und fotografiert, wird das folkloristische Angebot nur allzu gern angenommen.
Immer wieder treffen wir auf unserer Reise auf dieses Muster: Die kulturellen Highlights werden flankiert von einer voll durchorganisierten Bespaßung mit Souvenirs und überbordenden Konsumofferten. Zu Corona-Zeiten war China von der Außenwelt abgeschlossen. Die Regierung nutzte wohl die Zeit, um sich verstärkt auf die eigenen geschichtlichen Wurzeln zu besinnen, Kulturdenkmäler für die landeseigene Bevölkerung zugänglich zu machen und herauszuputzen. Dieses „Nation Building“ hat das eine Ziel, den stürmischen Umbruch im Lande qua technologischen Fortschritt mit dem Traum von historischer Größe und alten Weltmachtansprüchen auszusöhnen.
Vielleicht an keinem Ort der Route wird das so offensichtlich wie in Dunhuang in der westchinesischen Provinz Gansu. Die Oasenstadt zwischen der Taklamakan-Wüste und der Wüste Gobi war einer der populärsten Rastorte auf der alten Route. Von hier aus soll sich der Buddhismus nach China ausgebreitet haben. Davon zeugen die Mogao-Grotten mit ihren vielen buddhistischen Tempeln, die über Jahrhunderte in die Felswand gehauen wurden.
Noch vor wenigen Jahren schlummerten die Grotten im Dornröschenschlaf. Heute drängen die Einheimischen unaufhörlich zur Kultstätte. Der Tourismus ist sagenhaft gut organisiert, mit einer Armada an Helferinnen und Helfern samt Reisebussen. Ohne Ausweis geht nichts, Tickets muss man Wochen und Monate vorher buchen. Von einem die Großebene einnehmenden Parkplatz bringen uns die Busse die letzten Kilometer ans Ziel. Der eigentlichen Besichtigung der Kunst ist eine große Show vorgeschaltet. Ein historischer Spielfilm entführt in die mittelalterliche Welt, wo Grotte um Grotte entsteht, und die Seidenstraße als Handelsroute auf ihren Höhepunkt zusteuert. Nach dem Blockbuster-reifen Säbelrasseln geht es direkt in die IMAX-Kuppel, wo die Kunstschätze einzelner Grotten auf Genauste gezeigt werden und in Begleitung einer sonoren Erklärstimme übermächtige 3D-Buddha-Figuren im Raum zu schweben beginnen. Die anstehende Führung durch die Kunsthöhlen geschieht auf bestem Englisch. Erstaunlich, weil unsere Führerin noch niemals das Land verlassen hat.
Eine Steigerung des touristischen Gigantismus scheint kaum mehr möglich. Doch es kommt noch besser, erstaunlicher, lustiger. Vor den Toren der Stadt erstreckt sich die Taklamakan-Wüste mit ihren hellbeigen Dünen. Aus dem Wüstenzugang wird eine Attraktion sondergleichen gemacht. Mit Bussen und Bimmelbahnen werden wir in die Nähe einer uralten Oase gekarrt. Die Chinesen nennen sie „Die erste Quelle unter dem Himmel“. Sie schmiegt sich sichelförmig an eine berghohe Düne, auch „Berg des singenden Sandes“ genannt. Wenn Sand die Dünen herunterrollt, soll ein Klingen und Brummen ertönen.
Wieder sind es sagenumwobene Geschichten und Naturphänomene, die wie ein Sog auf die chinesischen Touristen wirken. In kniehohen, leuchtorangenen Überschuhen watscheln wir mit ihnen im Gänsemarsch die Düne noch oben. Der heilige Sand soll auf diese Weise nicht beschädigt werden. Mein Eindruck: Die meisten Chinesen hier haben großen Respekt vor der Natur. Sie ist unberechenbar, kann menschfeindlich sein. Besonders spürt man das hier in der Wüste. Vor Sonnenstrahlen und Hitze versuchen sich die Menschen geradezu panisch mit Spezialkleidung und Sonnenschirmen zu schützen.
Währenddessen fliegen Helikopter und unbekannte Leichtflugobjekte über unseren Köpfen für den Blick auf das Spektakel von oben. Auf der einen Seite des Berges rasen Jeeps den Sand rauf und runter, auf der anderen bewegt sich eine Karawane mit hunderten berittenen Kamelen im Schneckentempo. Auf dem Dünenkamm posieren Mädchen und junge Frauen in traditionellen chinesischen Kostümen. Dies alles geschieht mit scheinbar größtem Selbstverständnis. Die Eindrücke, die auf uns einprasseln, sind so geballt und absurd, dass wir auf einmal laut auflachen müssen.
Plötzlich fegt eine Windböe über die Düne hinweg. Die heiligen Sandkörner schlagen uns ins Gesicht. Statt harmonischer Wüstenklänge sind die spitzen Schreie der Touristen zu hören. Ich fühle mich wie im Film und unwillkürlich an „Jurassic Park“ von Steven Spielberg erinnert, just in dem Schreckmoment, wo sich die Natur gegen den Menschen wendet, Bestien ausbrechen und ihm nach dem Leben trachten. - Die Wüste lebt! Und manchmal grummelt sie. In diesem Szenario bleibt sie berechenbar und verschont uns - Buddha sei Dank - von einer Katastrophe.