Die Textilreinigung
Es gibt diesen einen einzigen Laden, der seit meiner Kindheit unverändert ist. - Die Betonbrücke hoch ins Einkaufszentrum. Gleich rechts hinter den Glastüren das Binah, eine Disco-Bar, die in den 1970er Jahren berühmt-berüchtigt war für ihre Drogenexzesse und an der mich mein Schulweg allmorgendlich vorbeiführte. Gegenüber auf der linken Seite der Passage hing am Fenster der Metzgerei lange Zeit ein Fahndungsplakat: Friederike Krabbe, Christian Klar, schon die Namen klangen bedrohlich. Noch mehr schreckten Ihre Bilder. Wer waren diese Terroristen? Entführten sie auch Kinder? Das Plakat der Rote-Armee-Fraktion und die verruchte Disco stifteten Unruhe im Kinderuniversum.
Nur wenige Schritte weiter war die Welt wieder in Ordnung. Dort arbeitete der schmale Mann mit dem schwarzen Haar und Bart putzmunter in seiner Reinigung: Er legte Kleider zusammen und zog sie durch eine Maschine, die sie automatisch in eine transparente Folie hüllte. Der Blick ins Schaufenster bot noch mehr: Es gab allerlei Kurzwaren, Nähzeug, bunte Sticker und Jeansflicken zum Aufbügeln. Jeden Morgen, wenn ich vorbeikam, war er schon da. Der Mann in seinem gelb-orange-grünen Laden war eine der unscheinbaren Konstanten in meinem Leben.
Die Jahre vergingen und aus Jahren wurden Jahrzehnte. Bei meinen Besuchen zuhause in der Pfingstweide, die als Trabantenstadt und Teil des Ortsbezirks Oppau im Norden Ludwigshafens erbaut worden war, schaute ich im Einkaufszentrum, ob sich etwas verändert hätte: Die Post, der Bäcker, die Metzgerei, alles war verschwunden, mit ihnen das furcht-einflößende RAF-Plakat. Alles, bis auf einen einzigen Laden: Die Reinigung war immer noch da und zu meinem Erstaunen völlig unverändert: Die automatische fahrbare Kleideraufhängung, die Regale mit den bunten Knöpfen und Reißverschlüssen, selbst von den Werbeplakaten grüßten noch die adretten Damen in ihren beigefarbenen Schlaghosen. Es herrschte eine liebenswert museale Atmosphäre.
Aber es war kein Museum, sondern eine Reinigung, die immer noch betrieben wurde. Leider hatte ich nie das Glück zu den üblichen Geschäftszeiten vorbeizukommen. Hatte jemand den Laden übernommen? Oder war es immer noch das schmale, in sich ruhende Sauber-Männchen, das ihn führte?
2023, über 45 Jahre später, war es so weit. Ein Freitagnachmittag vor dem ersten Mai, meine einzige Chance. Ja, er war da! Die Haare weiß, aber sonst unverändert in demutsvoller Hingabe mit dem Falten beschäftigt. Immer nur gesehen, noch nie gesprochen, betrat ich die Reinigung…
Sein Name ist Jürgen Netterer. Die Familie kommt aus dem Odenwald. Schon seine Eltern hatten eine Wäscherei in Ludwigshafen: Ihr „transparenter Waschsalon“ war damals eine Sensation, weil die Herren der Schöpfung die Wäscherinnen mit schmachtenden Blicken bei ihrer Arbeit beobachten konnten. Alle drei Kinder traten in die Fußstapfen der Eltern, beerbten die Wäscherei, stiegen ein ins Reinigungsgewerbe.
Jürgen Netterer zog in die Nordpfalz, um von dort jeden Tag 30 Kilometer in die Pfingstweide zu seiner Reinigung zu fahren, und das seit über 50 Jahren. Heute steht er mit jenseits der 70 immer noch in seinem Laden. Mittlerweile macht er samstags frei, ein Geschenk für seine Frau. Sie wollten mehr Zeit miteinander verbringen. Doch das Glück währte nur kurz: ein halbes Jahr später verstarb sie. Jetzt steht ein Foto von ihr vorne am Tresen.
„Gibt es eine Weisheit in Ihrem Leben?“ frage ich. „Ich habe mich angepasst!“ entgegnet er stolz. Wahrscheinlich ist das die wahre Kunst, dachte ich: sich anpassen, ohne sich zu verändern. „Kartenzahlung?“ frage ich. „Nein, das gibt es nicht.“ Ein Blick auf die alte mechanische Registrierkasse spricht Bände. Netterer ist sich treu geblieben. Seine Heimat ist sein geliebter Laden. Es ging ihm nie um das große Geschäft. Kleider reinigen ist wie Haare schneiden und Brot backen, das geht immer.