Rheinfall
Der Rhein bei Schaffhausen tut einen solchen Schuss in die Tiefe, dass er das Laufen vergisst und sich besinnt, ob er Dunst werden oder Wasser bleiben will. Wenn man ihn zum ersten erblickt: so sieht man lauter Dunststaub wie Silberrauch in der Luft. Sein Brausen in der Ferne scheint wie Harmonie, in welche einzelne Flutenschläge die Melodie machen. Er sieht ganz wild und ernst aus und stürmt trotzig über die Felsen hin, kühn und sicher, nicht zu vergehen. Es ist eine erschreckliche Gewalt, und man erstaunt, wie die Felsen dagegen aushalten können. Das Wasser scheint von der heftigen Bewegung zu Feuer zu werden und raucht; aber sein Dampf ist Silber, so rein wie sein Element ist…
Die Natur zeigt sich ganz in ihrer Größe. Die Allmacht ihrer Kräfte zieht dauernd die kochenden Fluten herab und gibt den ungeheuern Wassermassen die Eile des Blitzes. Es ist die allerhöchste Stärke, der wütendste Sturm des größten Lebens, das menschliche Sinnen fassen können. Der Mensch steht klein wie ein Nichts davor da und kann nur bis ins Innerste gerührt den Aufruhr betrachten… O Gott, welche Musik, welches Donnerbrausen, welch ein Sturm durch all mein Wesen! Heilig! heilig! heilig! brüllt es in Mark und Gebein…
Es ist mir, als ob ich in der geheimsten Werkstatt der Schöpfung mich befände, wo das Element von fürchterlicher Allgewalt gezwungen sich zeigen muss, wie es ist, in zerstürmten und ungeheuern großen Massen… und doch sind die Massen so stark, dass sie das Gefühl statt des Auges ergreifen, und die Bewegung so trümmernd heftig, dass dieser Sinn ihr nicht nachkann und die Empfindung immer neu bleibt und ewig schauervoll und entzückend.
Wilhelm Heinse, Tagebuch & Briefe (1780)